Bayern-AOK zieht gegen Frührentner zu Felde
Seite 42 das schlafmagazin 3/2013
David gegen Goliath
Bayern-AOK zieht gegen Frührentner zu Felde
WERNER WALDMANN
Der Vorstandschef der bayerischen AOK rastete wegen des Leserbriefs eines
Frührentners aus Landshut aus und glaubte, dass damit das Ansehen seiner
Kasse beschädigt sei – und so setzte er umgehend eine juristische Strafexpedition
nach Landshut in Marsch, sprich eine kostenpflichtige Unterlassungserklärung
gegen jenen Leserbriefverfasser. Ob der AOK-Chef mit dieser Strategie das
Image seiner Kasse aufpoliert oder seinen Versicherten gar erst klarmacht, sich
doch besser einer anderen Krankenkasse anzuvertrauen, die gegen Bürger nicht
gleich die juristische Keule bemüht, sondern sich lieber um die Versorgungsqualität
ihrer Versicherten kümmert, das ist die Frage.
Eine anrührende Story möchte ich Ihnen heute präsentieren.
Zur Warnung und zur Belustigung.
Die Geschichte spielt in Bayern,
dem Land der romantischen Seen,
der CSU und des Weißbiers.
Da ist ein Frührentner namens
Dendl, Helmut Dendl. Der lebt in
Landshut. Er hat einen irren sozialen
Touch. Er ist Schülerpate, gärtnert im
AWO-Heim mit Senioren, schlüpft im
Dezember in ein Nikolausgewand
und besucht alle Gesunden und
Kranken im AWO-Heim, und geht mit
Kleinkriminellen grillen, die auf Bewährung
draußen sind. Dendl engagiert
sich als Bürger in der lokalen
Szene. Der Mann sagt seine Meinung,
geradeheraus. Lässt sich nicht
verbiegen. Und Dendl leitet auch
eine Selbsthilfegruppe in Landshut,
die sich der Schlafapnoe- und Restless-
Legs-Patienten annimmt. Dendl
kennt sich da aus, denn er leidet
selbst unter dieser Krankheit und
macht aus seinen Erfahrungen kein
Geheimnis. Sein Wissen soll auch anderen
Betroffenen, die mit der Therapie
Probleme haben, zugutekommen.
Dendl – ein Paradebürger, uneigennützig,
kommunikativ: Dem müsste
die Bayerische Landesregierung
schon eine Bayerische Medaille für
gelebtes Ehrenamt an die Brust heften.
Dendl verfolgt natürlich, was sich
in der Politik so tut. Besonders in der
Gesundheitspolitik. Denn das betrifft
den Bürger unmittelbar. Dendl fand
den hausarztzentrierten Vertrag, den
die AOK in Bayern einst aus der Taufe
hob, schlichtweg gut. Ein solcher Vertrag
bringt denjenigen, die sich bei
ihrem Doktor einschreiben lassen, einige
Vorteile.
Krankenkassen und Hausärzteverbände
zusammenzukriegen, das ist
ein Kunststück, denn da sind kontroverse
Interessen im Spiel. Mit Verhandlungsgeschick
und dem Gedanken,
gemeinsam etwas für die Patienten
zu tun, lässt sich das schon
meistern. Siehe das Beispiel Baden-
Württemberg. Dort entwickelte sich
der vor fünf Jahren geschlossene
Hausarztvertrag zu einem Selbstläufer.
Die AOK Baden-Württemberg
unter ihrem Vorstandschef Dr. Christopher
Hermann setzt immer wieder
ein weiteres Stück obendrauf. Jetzt
kriegen auch Jugendliche bis zum
18. Lebensjahr nichtverschreibungspflichtige
Medikamente von der AOK
erstattet. Toll für die Familien. Der
schwäbische Hausarztvertrag ist ein
Bombenerfolg. So sehen Sieger aus,
verkündete jüngst die Presse zum
Jubiläum.
In Bayern hat sich das etwas anders
entwickelt. AOK und Hausärzte
konnten nie einen gemeinsamen
Nenner finden, geschweige denn
den Hausarztvertrag zum Erfolg führen.
Die Bayern-AOK reklamiert für
sich, einen solchen Vertrag frühzeitig
auf den Weg gebracht zu haben,
dann aber drohten die Hausärzte,
ihre Kassenzulassung auf breiter
Front zurückzugeben. Der Coup
misslang, weil Ärzte sich auch nie
einig sind. Die AOK kündigte den
Vertrag daraufhin. 14 Monate existierte
also keiner. Die Politik verdonnerte
die Kasse dann dazu, den Vertrag
zu reanimieren. Es gab ihn also
wieder und es gab ihn doch nicht so
recht. Der Vorstand des Hausärztekreises
Landshut, Dr. Gerhard Liebl,
musste es wissen, als er der Landshuter
Zeitung verriet: „Die AOK“, so
Dr. Liebl, „fährt den derzeit geltenden
Hausarztvertrag bewusst an die
Wand, nachdem sie von der Politik
zum Abschluss gezwungen war… Sie
boykottiert und arbeitet gegen ihn,
wo es nur geht.“ In Wikipedia war
vor kurzem noch nachzulesen, dass
es in Bayern keinen gültigen Hausarztvertrag
gebe. Ein rechtes Tohuwabohu.
Da kann sich ein Laie kaum
zurechtfinden.
Der Held unserer Geschichte
glaubte nun wirklich, es gäbe keinen
gültigen Hausarztvertrag der AOK,
und mit dieser Kenntnis verfasste er
seinen Leserbrief. Dendl freilich irrte
mit seinem Satz „In Bayern kündigte
die AOK im Dezember 2010 den
Hausarztvertrag. Damit steht für
AOK-Versicherte zurzeit kein Hausarztmodell
zur Verfügung.“
Dendl musste sich setzen, als ein Schreiben der Anwälte Richter & Simon aus München in seinem Briefkasten landete. In nüchternem Anwaltsdeutsch wurde er aufgefordert, eine Unterlassungserklärung zu unterzeichnen und 750 Euro Anwaltsgebühren zu berappen. Dendl hatte inzwischen weiterrecherchiert und sah ein, dass er geirrt hatte. Doch dafür 750 Euro den Anwälten in den Rachen zu werfen, nein, das sah seine Bürgerseele nicht ein. Wenn man das Schreiben der Anwältin Sabine Richter liest, muss man sich wundern. Dieser Leserbrief, so die Juristin, betreibe unlauteren Wettbewerb zugunsten der anderen Krankenkassen, da er bei dem Leser den falschen Eindruck erwecke, dass andere Krankenkassen ihren Versicherten im Gegensatz zur AOK in Bayern ein Hausarztmodell zur Verfügung stellten. Gut, Anwältin Richter beherrscht ihr Geschäft. Von ihr ist nicht zu erwarten, dass sie wie ein Normalmensch denkt. Dendl hat sich geirrt, wohl wahr. Doch muss sich ein juristischer Laie beim Verfassen eines Leserbriefs um juristischen Beistand bemühen? Im Leserbrief darf man seine Meinung äußern. Nur beleidigen darf man niemand. Oder hat Dendl die AOK beleidigt? Ist das überhaupt möglich? Dass Dendl mit seinem Irrtum AOK-Versicherte in die Arme anderer Krankenkassen treibe, das ist schon eine abenteuerliche Interpretation!
Wir wollen dies der Anwältin Richter nicht verdenken, denn sie hat schlicht ihr Mandat erfüllt. Urheber der Unterlassungskampagne war – man staune! – der Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern selbst, Dr. Helmut Platzer. Die von ihm schwungvoll unterzeichnete Vollmacht liegt vor mir auf dem Schreibtisch. Mein spontaner Gedanke: Ist dieser Mann noch bei Trost? Und: Um Gottes willen, was hat der für Berater? Mit einer solche Petitesse gibt sich doch kein Vorstandsboss ab. Aber das kann ein Dr. Platzer dem Ansehen seiner AOK doch nicht antun!
Dr. Platzer hat mich als Vorsitzenden des BSD auf mein Schreiben hin zu diesem Fall nach München eingeladen. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass er da wohl die falschen Register gezogen habe. Er beschäftigt einen Pressesprecher. Den hätte er zur Landshuter Zeitung schicken sollen, um in einem Interview kundzutun, dass die AOK im Augenblick sehr wohl wieder einen gültigen Hauarztvertrag habe. Auf diese Idee kam offenbar niemand in der Vorstandsetage. Statt mit Dendl mal zu reden, wurde sofort ein Anwaltsbüro in Marsch gesetzt. Ich riet Dr. Platzer, den Dendl schleunigst einzuladen und ihn zu einem Fan der AOK zu machen. Dr. Platzer steht als AOK-Boss ein stattliches Salär zu. Verständlich, dass er sich so nicht vorstellen kann, dass es einen kleinen Frührentner umhaut, wenn der plötzlich 750 Euro aufs Anwaltskonto überweisen soll. Dr. Platzer kann sich wohl auch nicht so leicht vorstellen, dass eine solche Geschichte dem kleinen Mann auf die Psyche geht. Dendl ist jetzt wütend. Er hat die AOK auf Schmerzensgeld verklagt. Aufs Geld kommt es ihm aber nicht an. Er will Öffentlichkeit.
Er will wissen, ob ein Krankenkassenboss die Beiträge seiner Versicherten für eine solch banale Angelegenheit verpulvern darf. Und er will wissen, ob seine irrtümliche Bemerkung zum Hausarztvertrag dem Ansehen der AOK in Bayern geschadet habe oder ob die überzogene Reaktion des Dr. Platzer die Kasse in Misskredit bringt.
Ob Dr. Platzer doch noch einlenkt? Ob er auf Dendl zugeht und seine juristische Strafaktion bedauert und Satisfaktion offeriert? Deeskalation nennt man das, wirkungvolles Krisenmanagement.
Eines kann ich mir zum Schluss nicht verkneifen: Dendl muss ein Hellseher sein. Dr. Platzer hat den Hausarztvertrag vor kurzem auf 2014 ordentlich gekündigt. War in der Medical Tribune zu lesen.
Dendl hat also seinen Leserbrief nur ein Jahr zu früh an die Zeitung verschickt.